Donnerstag, 22. November 2012

Sterben ist eine einsame Sache. Das Leben aber auch. Wir alle verbringen unser Leben im tiefsten Innern einsam und allein. Ganz gleich, wie viel wir mit den Menschen teilen, die uns in gewisser Weise nahe stehen, irgendetwas halten wir stets zurück. Manchmal ist es eine Kleinigkeit - zum Beispiel, wenn ein Mann sich an eine heimliche, längst vergangene Liebe erinnert. Er erzählt seiner Gattin, er habe keine Frau inniger geliebt als sie, in seinem ganzen Leben nicht, und das stimmt auch. Allerdings hat er eine andere Frau genauso sehr geliebt.
Manchmal ist das Geheimnis in unserem Innern etwas Riesiges und Düsteres - ein Ungeheuer, das direkt hinter uns lauert und dessen heißen Atem wir zwischen den Schulterblättern spüren.
In tiefster Nacht - in den Stunden, wenn jerder von uns alleine ist - kommen diese alten Geheimnisse und klopfen bei uns an. Einige klopfen lautstark, andere leise, kaum vernehmlich. Doch ob laut oder leise, sie kommen. Keine verschlossene Tür kann sie aufhalten. Sie haben den Schlüssel zu unserem Innersten.
Wir reden mit ihnen, flehen sie an, wir verfluchen sie, schreien sie an.
Mein Geheimnis? Vor ein paar Jahren ist ein Mann in meinem Haus eingebrochen. Er fesselte mich an mein Bett und vergewaltigte mich wieder und wieder. Er ließ eine unauslöschliche Reliefmarke aus Schmerz zurück. Nach jener Nacht folgten sechs Monate, die ich am Rande des Suizids verbrachte, eingehüllt in Verzweiflung und Irrsinn. Ich wollte sterben, und wäre wohl auch gestorben. Doch ich wurde gerettet, weil vorher jemand anders starb.
Sie war es, die mich in der Nacht gefunden hat. Sie war es, die mir die Waffe entwand und mich ohne eine Sekunde des Zögerns an sich zog. Sie war es, die mich hielt, während ich weinte und schrie und ihr makelloses Kleid mit meinem Blut und meinen Tränen ruinierte.
7 Tage später war sie tot.

Ich bin ein neuer Mensch.
Ich bin ein guter Mensch - weil ich weiß, wie gute Menschen sich verhalten und weil ich sie kopiere.
Ich hatte es immer vermutet, aber es war nett, eine offizielle Diagnose zu bekommen.
Antisoziale Persönlichkeitsstörung.
APS wird vor allem als Mangel an Empathie definiert. Empathie erlaubt den Menschen, Gefühle zu erkennen, wie die Ohren Geräusche wahrnehmen. Ohne Empathie ist man emotional taub.
Aber es bedeutet nicht nur emotional taub zu sein, sondern man ist in dieser Hinsicht auch stumm. Ich kam mir vor wie die Figuren im Fernsehen, die winken und schrien, aber es war kein Wort zu verstehen. Als würde man mit den Mitmenschen offenbar völlig verschiedene Sprachen sprechen, und es gab keine Kommunikation.
Diese Vorstellung war mir noch nie neu. Mir war schon lange klar, dass ich mich kaum auf andere Menschen einließ. Ich verstehe sie nicht, sie verstehen mich nicht, und die emotionale Sprache, die sie sprachen, würde ich wohl nie lernen. APS darf offiziell erst mit 18 Jahren diagnostiziert werden.Vorher hieß es Verhaltensstörung, aber wir wollen ehrlich sein: Eine Verhlatensstörung ist lediglich eine nette Umschreibung für Eltern, die Kinder mit APS haben.
Früher, im Biologieunterricht, haben wir über die Definition des Lebens gesprochen. Um als Lebewesen zu gelten, muss man essen, atmen, sich fortpflanzen und wachsen. Das tun Hunde, Felsen aber nicht. Bäume tun es, Plastik aber nicht. Feuer war nach dieser Definition äußerst lebendig. Es frisst alles, ob Holz oder Fleisch, und es atmet Luft wie ein Mensch, wobei es Sauerstoff in Kohlendioxid verwandelte. Feuer wächst, und wenn es sich ausbreitet, erschafft es neue Brände, die ihrerseits um sich greifen und wieder neue Feuer entfachen. Es kämpft um Territorium, es liebt und hasst. Wenn ich beobachte, wie manche Menschen sich durch ihr langweiliges Leben schleppen, dann glaube ich manchmal, dass das Feuer sogar lebendiger ist als wir - heller, heißer, selbstbewusster. Es weiß immer, wohin es will. Feuer lässt sich nicht nieder, Feuer ist intolerant. Feuer wurstelt sich nicht irgendwie durch. Feuer tut etwas. Das Feuer lebt.

Wessen Schwingen trug's mit Mut?
Wessen Hand ertrug die Glut?
Tiger! Tiger! Graues Licht, das aus Nacht und Wälderns bricht,
wessen Schöpferdrang gestillt hat dein entsetzliches Gebild?
Wo der Hammer?
Wo sein Klirrn?
Wo der Ofen für dein Hirn?
Als die Sterne aufgewacht, Himmelstränen dargebracht, sprach er:
Es ist gut! zu sich? Der das Lamm schuf, schuf er dich?


1 Kommentar:

  1. "Beschreib es mal, deine Gefühle"
    "Das kann ich nicht. Das wäre wie der Versuch hinter ein Milchglas schauen zu wollen"
    *pause*
    "Ich kann ihre Schatten erkennen, aber nicht, was sie von mir wollen"

    Das hab ich der freundlichen Dame gesagt, die mich eingewiesen hat, sie hat geantwortet "Interessant, so hab ich das noch nie gehört" Ich glaube Sam, dass kommt schon ganz nah an das ran, was du beschreibst.

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